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Zitat zum Sonntag_Siri Hustvedt: Mütter, Väter und Täter


«Wenn ich schreibe, schreibe ich für einen imaginären anderen, einen imaginären Leser. Jede Geschichte, jeder Roman wird jemand anderem erzählt oder für jemand anderen geschrieben. Sprache ist fundamental dialogisch. Sie spielt sich zwischen und unter Menschen ab. Wie der russische Theoretiker Michail Bachtin es ausdrückte: "Jedes Wort ist zur Hälfte das Wort eines anderen." Wenn ich einen Roman lese, bin ich diese andere, diejenige, die das Geschenk des Schreibenden annimmt. Jedes Buch wird erfunden, nicht nur von dem, der es schreibt, sondern auch von seinem Leser. Wir bringen uns - unsere Vergangenheiten, Erwartungen, Neigungen, Vorurteile und Begrenzungen - zu den Büchern. Lesen ist eine Form des Dialogs, eine Auseinandersetzung mit dem textuellen anderen, Wörtern auf einer Seite, die eine Parallelwelt heraufbeschwören, welche ich mir aktiv vorstelle. Für die Dauer des Buchs bin ich, die Leserin, von einem anderen Bewusstsein durchdrungen, einem Erzähler, auf den ich mich einlasse oder von dem ich mich löse, dessen Rhythmen meine Rhythmen werden, dessen Worte meine Worte sind. Der Erzähler des Buchs wird mein innerer Erzähler, solange ich mich dafür entscheide, in dem Buch zu leben.»

S. 162f.

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