YEAH! Lesen
Notiz_Über gute Manieren
Sich grüssen, sich bedanken, um etwas bitten, sich entschuldigen, sich verabschieden. Danach fragen, was der andere gemeint hat, bevor man urteilt. Darum bemüht sein, die andere zu verstehen. Zunächst vom guten Willen des Gegenübers ausgehen. Sich bewusst sein, dass es gute Gründe für schlechtes Verhalten geben mag. Einen Standort formulieren, ein Urteil treffen, eine Grenze ziehen, genauso wie gegen Ungerechtigkeit und Gewalt Stellung beziehen: inhaltlich präzise und scharf, ohne den anderen und die andere abzuwerten. Wissen, dass ich selbst Fehler mache; wissen, dass die anderen Fehler machen. Wissen, dass wir alle von Zeit zu Zeit lächerlich sind. Und arrogant, sensibel, gekränkt. Niemanden beschämen oder blossstellen. Komplimente machen, das Gute herausstellen, die Verbindungen sichtbar machen. Sich bewusst sein, dass niemand weiss, was er oder sie nicht weiss. Manchmal auch, was sie oder er weiss. All das bedarf stetiger Arbeit am eigenen Wortschatz.
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November 2023
Notiz_Über den letzten Stand des Irrtums
Jeder Gedanke, jede geistige Bewegung, jede gefasste Meinung versetzt mich immer auch ins Unrecht. Denn immer sehe ich etwas nicht, mein Verständnis hat Grenzen, meine Perspektive ist notwendigerweise eingeschränkt. Wenn ich lebe, bin ich gezwungen, Raum einzunehmen. Sobald ich einen Raum eingenommen habe, habe ich eine bestimmte Perspektive. Sobald ich eine bestimmte Perspektive habe, sehe ich nicht mehr alles. Diese Einschränkung trübt mein Verständnis und macht meine Position wackelig. In diesem toten Winkel meiner Wahrnehmungsmöglichkeit ist vielleicht das Leid, das Wissen, die Liebe oder Grausamkeit vieler anderer oder von jemanden oder mein eigenes verborgen. Mein Erleben spielt sich immer ab zwischen der unbedingten Forderung des Lebens, einen Standpunkt einzunehmen und das Wissen darum, dass dieser notwendigerweise auf wackeligen Beinen steht. Mit einem Fuss stehe ich immer im falschen Leben, mit allem guten Willen erreiche ich immer nur den letzten Stand des Irrtums.
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November 2023
Notiz_Über Gespenster
Natürlich glaube ich nicht an Gespenster. Aber dennoch bin ich tagtäglich von ihnen umgeben. Die Träume, Wünsche und Sehnsüchte, die sich nicht verwirklicht haben, aber dennoch um mich herumwabern und mir von Zeit zu Zeit falsche Tatsachen vorspielen. Und die Appelle, die Wünsche und Träume anderer, die mich bedrängen. Alle Stimmen aus der Vergangenheit, die mich mehr geformt haben als vieles, was tatsächlich, nachweislich überprüfbar Faktum meines Lebens ist – die Stimme, die flüstert, dass ich niemals einen Abschluss schaffen werde, ist bestimmender für mich als das Papier, das den Abschluss bestätigt. Vorwitzige Kobolde, bösartige Gespenster, fürsorgliche Feen. Das ist alles ebenso Teil meiner Wirklichkeit, wie ich weiss, dass es das alles nicht gibt.
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Oktober 2023
Notiz_Über Digitalisierung
Digitalisierung ist ein kultureller und technischer Transformationsprozess, in dem unsere Beziehung zu Maschinen verhandelt wird. Ein Veränderungsprozess hat einen offenen Ausgang. Wir wissen weder, wie sich die Maschinen verändern, noch wie wir uns verändern. Wir wissen nicht, wie wir aufeinander reagieren und was aus der Beziehung wächst. Wir wissen nicht, ob wir mehr auf die Maschinen einwirken oder die Maschinen auf uns. Wir wissen nicht, wer anpassungsfähiger ist. Wir raten, wir versuchen von Jetzt auf Morgen zu schliessen, wir haben mal mehr Angst und sehen mal mehr Möglichkeiten. Wir denken, dass sich der Prozess nicht aufhalten lässt. Wir haben Sorge, dass wir die Entwicklung nicht steuern können. Es ist uns mal egal, mal überhaupt nicht. Wir denken, dass wir mehr wissen müssen. Wenn wir mehr wissen, denken wir: Vielleicht wissen wir nicht das Richtige. Aber es liegt am Transformationsprozess, wir werden nie genug Wissen haben, um letztgültige Entscheidungen treffen zu können. Es gibt zu viele offene Punkte: Die Sprache, um die Probleme einzufangen und darüber sprechen zu können. Unser Denken, dass so viele Formen annehmen kann. Die Maschinen, die so schnell lernen. Wir selbst, die wir so schnell lernen. Wir stehen nie über dem Prozess, wir stehen immer darin. Schwieriger Blickwinkel. Und vielleicht ist unsere Beziehungskompetenz der vielversprechendste Ausgangspunkt unseres zukünftigen Lebens mit Maschinen.
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September 2023
Notiz_Über klare Meinungen
Mir werden Positionen, Meinungen, Haltungen immer ungewisser, weil vielfältig, weil verästelt in tausend kleine Auseinandersetzungen und Verhandlungen, weil viel komplexer als angenommen. Ich kann nicht anders: Ich bin tief berührt von all dem Versuchen, dem Scheitern, den Schwierigkeiten, dem Aushandeln, den Kompromissen, dem Schwanken, der Unmöglichkeit eine wahre, gerechte, ehrliche Position einnehmen zu können; die Demut und Grösse, die im „sowohl als auch“ stecken.
Gleichzeitig werden Positionen, Meinungen und Haltungen auch viel klarer, eindeutiger, ich ziehe Grenzen, wo ich vorher nicht einmal Möglichkeiten dafür gesehen habe. Und ich kann nicht anders: Ich freue mich von Herzen für den gewonnenen Mut, Stärke und die Unabhängigkeit; die Kraft, die im „entweder oder“ steckt.
Es stimmt weder, dass ich immer klarer auf die Welt und mich selbst blicke, noch dass ich einen immer getrübteren und verstellteren Blick habe. Ich mäandriere hin und her.
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September 2023